Gerhard Nies – »Auf das Know-how kommt es an«

Gerhard Nies beim Unternehmergespräch im Lausitz Lab
Das Projekt „Erfahrungen und Potenziale an einen Tisch – Unternehmergespräche im Lausitz Lab“ brachte 2017/2018 Lausitzer Unternehmer in Erzählsalons zusammen. Einer der Erzähler war Gerhard Nies. Lesen Sie hier seine Geschichte.
Als ich Stahlbau studierte - an der Ingenieurschule in Roßwein -, kam ich 1971 für ein Praktikum ins Lauchhammerwerk des DDR-Kombinates TAKRAF. TAKRAF begeisterte mich sofort. Die Abkürzung steht für „Tagebaugeräte, Krane und Fördertechnik”.
Dutzende Betriebe mit insgesamt etwa 40 000 Beschäftigten gehörten zum Kombinat. Ich war beeindruckt, wie hier gearbeitet wurde - auf Weltniveau und in enger Verzahnung mit den Hochschulen in Dresden, Freiberg, Senftenberg und Cottbus. Obwohl es sich um riesige Maschinen handelte, Tausende Tonnen schwere Bagger, wurde akribisch genau gearbeitet. Ich war fasziniert.
Als Kind hatte ich meinem Vater in der Schmiede in Blankensee geholfen und während der Oberschulzeit zugleich Werkzeugmacher gelernt. Nun lief ich durch die Werkshallen in Lauchhammer und dachte: Das ist es! Hier will ich arbeiten! Ich tat es - knapp 40 Jahre lang.
Für meinen ersten Auslandseinsatz musste ich mich nicht bewerben. Der damalige technische Direktor, Dr. Rolf Müller, warf mich ins kalte Wasser: Er schickte mich 1975 zur Reparatur eines Schaufelradbaggers in die Sowjetunion, nach Kasachstan. Da war ich erst vier Jahre in der Firma. Zwei Jahre zuvor hatte ich außerdem ein Fernstudium zum Diplomingenieur „Konstruktiver Ingenieurbau” an der TU Dresden begonnen. „In Kasachstan kannst du deine Sporen verdienen!”, sagte Dr. Müller.
Mit einer viermotorigen Iljuschin Il-18 flog ich nach Moskau. Dort suchte ich die Büros der sowjetischen Außenhandelsorganisation Metallurgimport auf, um meine Weiterreise genehmigen zu lassen. Ich sprach in der DDR-Handelsvertretung und bei der staatlichen Reiseagentur Inturist vor, bis ich endlich ein Flugticket nach Pawlodar in den Händen hielt. Pawlodar lag im Sperrgebiet, bei Inturist war ich deshalb ein seltener, doch bestens betreuter Fall. Ein Dolmetscher holte mich vom Flugplatz ab, dann fuhren wir mit dem Jeep mehrere Stunden durch die eiskalte Steppe bis Ekibastus, dem Standort der Bogatyr Mine. Völlig übermüdet kam ich an. Mein Zeitgefühl war irgendwo auf der Strecke geblieben.
Am nächsten Tag, einigermaßen ausgeschlafen, hatte ich einen Termin beim Technischen Leiter des Tagebaus. Genosse Kolesnikow hielt seine Skepsis nicht zurück: „Wen hat uns Dr. Müller denn da geschickt? So einen jungen Menschen? Na, dann mal in die Grube, Genosse!”
Bogatyr war der größte Steinkohletagebau der Welt, die Kohleflöze 200 Meter dick. Es dauerte drei Stunden, bis wir die riesige Mine erreichten. Die rund 2000 Tonnen schweren und 150 Meter langen Bagger des Lauchhammerwerks sahen wie Spielzeuge aus. Eine beinahe unheimliche Szenerie.
Der Baggerfahrer begleitete mich zu unserem stillgesetzten Gerät, damit ich den Schaden beurteilen konnte. Eine schwierige Kletterpartie. Ich nahm Maß und machte Notizen. An der Stahlkonstruktion des Radauslegerkopfes befand sich ein gefährlicher Riss. Der Fahrer sagte: „Junge, dann rechne mal aus, wie das geschweißt werden kann. Ich habe die besten Schweißer informiert. Wir brauchen den Bagger dringend, um die Kohle für unsere Kraftwerke zu fördern. Bald kommt der Winter!” Direktor Kolesnikow erkundigte sich nach dem Befund.
„Das ist ernst”, berichtete ich. „Aber wir werden sicherlich eine Lösung finden. Zuerst benötige ich eine Telefonverbindung nach Lauchhammer.”
„Machen wir am Nachmittag. Vergessen Sie nicht die fünf Stunden Zeitverschiebung!”
Die Verbindung war so schlecht, dass ich in den Hörer brüllen musste. Nach zwei Tagen hatte ich die statische Überschlagsrechnung erstellt, die Skizzen für die Entlastung, die Reparatur und die Anleitungen für die Temperaturführung beim Vorwärmprozess - ungefähr 15 DIN-A4-Seiten, die der Dolmetscher rasch ins Russische übersetzte.
Ich trug meine Pläne in der Direktion vor. Kolesnikow lobte: „Gute Arbeit. Einen Bagger dieser Größe haben wir noch nie repariert. Bis zum Beginn der Reparatur bleibst du bitte hier, dann kannst du zurück nach Lauchhammer.”
Es folgten sieben Tage mit täglichen Detail-Abstimmungen, Protokollen, mit gutem Essen und Wodka. Dann trat ich die Heimreise an, mit einem erneuten Zwischenstopp in Moskau.
Der Erfolg im fernen Kasachstan war ein Schlüsselerlebnis und ein Meilenstein für meine Karriere bei TAKRAF. Ihm folgten viele Auslandsreisen, vor allem in den „Sozialistischen Wirtschaftsraum”, die Sowjetunion und nach Mittelosteuropa.
Mitte der Achtzigerjahre fuhr ich zum ersten Mal ins „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet” (NSW). In Spanien gewann ich einen ersten Eindruck von den Mechanismen der freien Wirtschaft, einen Vorgeschmack auf das, was uns nach der Wende erwarten sollte.
TAKRAF Leipzig baute zwei neuentwickelte Schaufelradbagger für den Braunkohle-Tagebau Puentes in Nordspanien. Es war ein Kompensationsgeschäft im Tausch gegen Schiffsreparaturen. Der Kunde ENDESA in Madrid verlangte eine sogenannte „Kurz-Statik”, eine statisch-dynamische Berechnung des Stahltragwerks. Dr. Müller wählte mich aus, sie am Firmensitz vorzutragen: „Du kennst die Statik, kannst konstruieren, also bist du der Richtige.”
„Ich besitze keinen Pass fürs NSW.”
„Dafür sorge ich schon.”
Meine Frau war skeptisch, ob sie mich tatsächlich reisen ließen, doch nach drei Wochen und einigen Gesprächen hielt ich den richtigen Pass in den Händen. Die Dienstreise konnte starten. Vor Ort überzeugten wir ENDESA von der soliden Berechnung der Bagger.
Große Baugruppen für den Bagger wurden in Kooperation mit der Schiffswerft ASTANO im Hafen von Ferrol hergestellt. Erstaunlicherweise waren die schönen Produktionsanlagen nicht ausgelastet, zum Teil standen sie leer. Die Hallendecke war undicht, es regnete hinein. Neue, hochmoderne Maschinen rosteten ungenutzt vor sich hin! Konnte ASTANO sich diese Verschwendung leisten?
Nach meiner Rückkehr fragte ich Dr. Müller: „Wie kann es sein, dass sie für diese Maschinen keine Verwendung haben? Gibt es dort nichts zu tun?” Mein Vorgesetzter konnte mir keine Antwort geben. „Beim nächsten Mal kannst du ja nachfragen.”
Das Projekt dauerte drei Jahre, und schon bald hatte ich Gelegenheit, meine Neugier zu stillen. Was ich erfuhr, war für einen Ost-Ingenieur wie mich nur schwer zu verstehen: ASTANO hatte in neue Anlagen investiert, um Offshore-Ölbohrplattformen zu bauen. Doch die Wettbewerber waren schneller gewesen. Beim Einweihungsfest für unsere Bagger berichtete mir der Verantwortliche von der bitteren Bilanz seiner Firma: In Korea seien sie schon weiter, in Polen, bei Gdansk, werde bereits gebaut. Alles ohne ASTANO. „Das wird nichts mehr!”
Die ungenutzten Maschinen und leeren Hallen waren eine Folge von Fehleinschätzungen des Marktes. Ingenieure und Fachkräfte wurden arbeitslos. Im Öl-Plattform-Debakel lag auch der eigentliche Grund, weshalb TAKRAF vor Ort fertigen sollte: Der staatliche Energieversorger ENDESA hatte sich dafür eingesetzt. So wurden die vorhandenen Werkstätten wenigstens zum Teil ausgelastet.
Dürfte ich diese Maschinen einladen und nach Lauchhammer bringen, so dachte ich, hätte ich für sie eine gute Verwendung. Schweißtechnik, Bohrtechnik: Solche „Produktionsmittel” bildeten das Rückgrat einer funktionierenden Wirtschaft! So hatte ich es im Osten gelernt.
Die Erfahrung bei ASTANO war für mich wie eine Schulung über den Kapitalismus. Ich erfuhr, welche Folgen der Wettbewerb mit sich brachte, wie stark es darauf ankam, sich nicht zu verkalkulieren und das Marktgeschehen genau im Auge zu behalten. Für den Erfolg einer Firma ist nicht entscheidend, welche „Produktionsmittel” zur Verfügung stehen, sondern über welches Know-how sie verfügt. Auf das Wissen und Können kommt es an!
Dann kam die Wende. Die Treuhandanstalt übernahm das Ruder. Ich arbeitete inzwischen als Abteilungsleiter für Stahlbau und Statik im Bagger-, Förderbrücken- und Gerätebau Lauchhammer (BFG), einem von 26 Einzelbetrieben der TAKRAF, mit circa 3250 Mitarbeitern. In den Wendewirren wurde ich Ende 1989 als Chefkonstrukteur eingesetzt und Mitte 1990 zum Technischen Vorstand der formal privatisierten Lauchhammerwerk AG berufen.
Die Treuhandanstalt schickte Beraterfirmen, die ermitteln sollten, ob wir etwas wert waren. Am Rande von Angebots-Verhandlungen im Ausland erfuhr ich, dass sich eine deutsche Beratungsfirma über die Produkte, Kompetenzen und die Reputation des Lauchhammerwerks informierte. Bei der Treuhandanstalt tummelte sich vermutlich die gesamte altbundesdeutsche Beraterlobby. Es galt, ein großes Feld abzugrasen.
Von Mitte 1990 bis 1994, als das TAKRAF-Lauchhammerwerk von MAN übernommen wurde, lernte ich zahlreiche dieser wortgewandten und gut strukturierten Männer der unterschiedlichsten Spezialgebiete kennen. Mit ihren Ergebnis-Präsentationen hielten sie den Spiegel vor die Gesichter der ehemaligen DDR-Betriebe. Das war nötig, denn wir mussten einen kompletten Systemwechsel bewältigen. Das Tempo, das dabei angeschlagen wurde, überforderte jedoch die meisten Betriebe. Und es überforderte die Menschen.
Mit sechs unterschiedlichen Beraterfirmen hatte ich zu tun. Nach jedem gutdotierten Beratungs-Prozess standen Personalreduzierungen auf der Tagesordnung. 1992 wurden die bis dahin übriggebliebenen Betriebsteile zur TAKRAF Lauchhammer Leipzig GmbH umfirmiert. Gemeinsam mit Klaus Fortkord und Joachim Reul, zwei westdeutschen Managern, berief man mich in die neue Dreier-Geschäftsführung des Unternehmens. Wir mussten bergeweise Entlassungen unterschreiben. Als einzig altgedientem „Lauchhammeraner” in der Geschäftsführung brachten mich diese Jahre an die Grenzen des mental Erträglichen.
Unser Ziel bestand darin, die restlichen Betriebe und das Know-how der Tagebau- und Fördertechnik zusammenzuhalten. Dazu mussten wir die Verantwortlichen der Treuhand mit einem profitablen Geschäftskonzept überzeugen.
„Herr Reul”, sagte ich zu meinem Co-Geschäftsführer, „wenn wir keine richtigen Investitionen bekommen, wird die TAKRAF untergehen.”
Schließlich erhielt auch ich die Gelegenheit, meine Vorstellungen in einer Sitzung der Treuhandanstalt in Berlin vorzutragen. Ich wurde gebeten, mögliche Zukunftsstrukturen für das TAKRAF-Kerngeschäft „Tagebau- und Förderanlagen” aus technischer Sicht darzulegen. Im Besprechungsraum stand eine große Flipchart-Tafel. Der Sitzungsleiter forderte mich auf: „Skizzieren Sie doch, wie Sie sich das denken.”
Also zeichnete ich Symbole, Striche und Schemata für die Gewinnungstechnik, die Transporttechnik, den Abraum und die Rohstoffe. Ich hob unser Know-How hervor, unsere Patente. Die betriebswirtschaftlichen Zahlen hatte ich im Kopf. Ohnehin war mir das gesamte Konzept sehr präsent. Es ging nicht allein auf meine Erfahrungen und Überlegungen zurück, sondern war ein Ergebnis unendlich vieler Diskussionen in der Firma.
Diese führte ich mit einem Team von fünf Leuten, mit Walter Rössel, Horst Jurisch, Horst Schachtschneider, Matthias Gnilke und Hans Schmidt. Wir hatten die vielen verschiedenen Prozesse und Trends gegeneinander abgewogen und kamen zu klaren Vorstellungen über unsere Schwerpunkte. Diese versuchte ich, in meiner Flipchart-Skizze zusammenzufassen.
„Sei vorsichtig mit deiner Malerei”, gab mir Joachim Reul mit. „Das wird alles kopiert und zu den Beratungsdokumenten gelegt.”
Doch ich war mir meiner Sache sicher. Zuletzt wies ich auf die Notwendigkeit von Investitionen hin und regte an, dass die Berater nicht nur unser Werk, sondern auch unsere Kunden im Ausland besuchten. Statt sich nur unsere zum Teil maroden Anlagen in Lauchhammer anzusehen, könnten sie sich bei den Kunden einen Eindruck von unserer Leistungsfähigkeit verschaffen.
In der anschließenden Diskussion spürte ich, dass ich die Situation unseres Unternehmens transparent und belastbar vermittelt hatte. Mein Vorschlag, sich bei unseren Auftragsfirmen zu erkundigen, wurde umgesetzt.
Einige Zeit später gab mir Joachim Reul eine Protokoll-Kopie, welche die Berater von ihrer „Forschungsreise” angefertigt hatten. Er kommentierte sie mit dem sarkastischen Spruch: „Bitte vor dem Lesen zerreißen!”
Doch es beinhaltete gute Nachrichten! Unsere Bergbau-Kunden hatten zu uns gehalten und die Berater der Treuhandanstalt auf die strategische Bedeutung der TAKRAF hingewiesen. Unsere Produkte hatten die Energiewirtschaft im Osten maßgeblich geprägt und gestützt, unsere Ingenieure und Facharbeiter wurden geschätzt. Das zahlte sich aus. In Lauchhammer war die Belegschaft inzwischen auf unter 900 Mitarbeiter geschrumpft. Doch das Protokoll stimmte mich optimistisch: „Wenn die Investitionen umgesetzt werden, von denen ich in Berlin gesprochen habe, können wir zwei Standorte halten.”
Die Rettung kam durch einen „Glücksfall”. Die Firma MAN Fördertechnik Nürnberg hatte einen Auftrag der Rheinbraun AG für einen Großschaufelradbagger angenommen. Ein 14-Tausend-Tonnen-Großbagger sollte gebaut werden, beinahe hundert Meter hoch, 225 Meter lang, der pro Tag 240 000 Kubikmeter Abraum bewegte. Doch auch im westdeutschen MAN-Konzern hatte es Werksschließungen und Umstrukturierungen gegeben. Für ein derartig anspruchsvolles Mammutprojekt war er nicht mehr ausgerüstet. Seine Abwicklungskapazitäten reichten nicht, obwohl die Konstruktionsdokumentation zum Teil über Rheinbraun bereitgestellt wurde. So kam 1992 unser Lauchhammerwerk ins Spiel. Mein Kollege Fortkord sagte zu mir: „Jetzt kommt Ihre große Stunde!”
Wir sollten keinen völlig neuen Bagger konstruieren, sondern die Pläne nach den technischen Weiterentwicklungen und den spezifischen Anforderungen des Projekts anpassen. Hauptsächlich ging es um die Steuerungs- und Regeltechnik, um Hydraulik und die Umkonstruktion exponierter Tragwerksteile. Mein Job also.
Wir gaben Angebote ab, führten Preisverhandlungen und kamen zum Vertragsabschluss. Rettung in letzter Sekunde! Ohne diesen Auftrag und den Schulterschluss mit MAN wäre das zarte Gebilde der TAKRAF Lauchhammer Leipzig GmbH wohl zerschlagen worden - wie so viele DDR-Betriebe, darunter ein großer Teil des ehemaligen TAKRAF Kombinats.
Durch die Zusammenarbeit näherten wir uns an. So kam es im Juli 1994 schließlich zu einer „friedlichen Übernahme” der „kleinen” TAKRAF durch MAN. Zuvor war großer Bahnhof in Lauchhammer. Einige Vorstände der MAN-Teilkonzerne kamen zu Besuch, erfolgreiche Manager, die gewohnt waren, mit riesigen Umsätzen zu rechnen. Am Rande einer Veranstaltung sprach ich mit dem Chef des Rheinbraun Department for Mining Equipment. Er erkundigte sich nach Stundensätzen in den verschiedenen Gewerken des Lauchhammerwerkes.
„Dann waren die Produktionskosten bei euch ja recht niedrig”, meinte er.
„Eigentlich halten unsere Tagebaugeräte viel zu lang. 40 Jahre und mehr. Da kann ein deutscher Lieferant bei deutschen Vorschriften ja in Deutschland nichts werden”, erwiderte ich lakonisch.
Durch die neuen Perspektiven, die sich mit MAN ergaben, konnten wir in Lauchhammer eine komplett neue Fabrik und Bürogebäude bauen. Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung unter Helmut Kohl, Johannes Ludewig, informierte sich über den Stand der Dinge. Ich sprach mit ihm über das Vorhaben „Neue Fabrik Lauchhammer”, dessen Budget 60 Millionen betrug. Ludewig inspizierte den vorgesehenen Standort: die Baugrundbeschaffenheit, den Fundamentbau für die 18 000 Quadratmeter Hallenfläche, Maschinen-Ausrüstungen, Kräne.
„Wie viele neue Arbeitsplätze werden entstehen?”, fragte er mich. Ich erklärte ihm unser internationales Engagement, Einsatzfälle und Einsatzorte. Ludewig war zufrieden. Das Budget wurde eingehalten und 1994 bezogen wir die Halle.
Im Juli 1995 übergab die MAN TAKRAF GmbH den modernen Großbagger vertragsgemäß an RWE/Rheinbraun. Laut Guinness-Buch der Rekorde handelt es sich um die größte fahrbare Arbeitsmaschine der Welt!
In der Firma MAN TAKRAF GmbH wurde ich neben C. Fortkord und Dr. Kretzschmar einer der drei Geschäftsführer. Wir firmierten zwölf Jahre unter diesem Namen. Wie eh und je setzten wir auf Forschung und Entwicklung, um technisch auf Weltniveau zu bleiben. Die Verträge mit den Hochschulen, die seit DDR-Zeiten bestanden, liefen weiter. Internationale Hochschulpartner kamen hinzu. Ein fester Prozentanteil des Umsatzes wurde in die Neu- und Weiterentwicklung unserer Maschinen investiert, respektable Summen, die wir alljährlich unserem Gesellschafter gegenüber verteidigen mussten. Jedem von uns war klar, dass wir mit unseren Baggern allein nicht die Zukunft des Unternehmens gestalten konnten.
Das Festhalten an Forschung und Entwicklung zahlte sich aus. Heute liefern wir unter anderem leistungsfähige Brechertechnik und Bandanlagen zur Zerkleinerung und zum Transport sehr harter Mineralien. Wir arbeiten neben der Kohle längst an Ausrüstungen für andere Rohstoffe. So lieferten wir riesige Brecheranlagen für Kupfererze und harten Abraum nach Chile, Mexiko, Australien und Kasachstan. Auch große Ölkonzerne gehören zu unseren Kunden, die zum Beispiel im kanadischen Alberta Ölsande im Tagebau ausbeuten.
Unser damaliger Aufsichtsratsvorsitzender kam von der MAN-Technologie. Er legte uns nahe, moderne Sensorik und Automatisierungstechnik einzusetzen. Dafür bauten wir in Lauchhammer ein kleines Testlabor auf.
Unsere wichtigste Zukunftsstrategie - neben der Entwicklung komplexer Gerätesysteme - bestand in der konsequenten Internationalisierung. R. Kahrger, ein anerkannter Ingenieur mit weltweiter Marktkenntnis und technischem Gespür für Bergbaumaschinen übernahm 2000 - nach der Pensionierung von C. Fortkord - den Vorsitz der Geschäftsführung. Jenseits unserer angestammten osteuropäischen Abnehmerländer und kleiner Vertriebsbüros gründete TAKRAF Tochtergesellschaften auf allen Erdteilen. In Südamerika, den USA, Australien, Indien und China. Im riesigen China besitzt die TAKRAF heute sogar zwei Tochterfirmen. Das war notwendig, weil unsere Kunden ungerne eine internationale Vorwahl wählen. Sie brauchen einen direkten Ansprechpartner vor Ort, der etwas von der Sache versteht.
Viele unserer ausländischen Mitarbeiter luden wir nach Leipzig und Lauchhammer ein, um ihnen unsere Firmenphilosophie zu vermitteln und persönliche Kontakte aufzubauen. Meist schafften wir es, die kulturellen Unterschiede und Besonderheiten zu verstehen. Natürlich blieben auch Probleme nicht aus. Die Mentalität, die Ideen, die Offenheit der Nord- und Südamerikaner sowie der Australier taten unseren TAKRAF-Mitarbeitern gut.
Schwieriger war es Anfang der Neunzigerjahre mit chinesischen Fachkräften, die in Lauchhammer und Leipzig Zeichnungen auf chinesische Standards umarbeiteten. Sie waren für einen Auftrag für einen Tagebau in der Inneren Mongolei bestimmt. Dabei versuchte ein chinesischer Kollege, an wichtige betriebsinterne Dokumentationen heranzukommen. Als wir das anhand der Kopiererprotokolle bemerkten, schickten wir ihn sofort in seine Heimat zurück.
Trotz solcher Ecken und Kanten steigerten wir unser Auslandsgeschäft kontinuierlich. In Deutschland erwirtschafteten wir nur einen geringen Teil unseres Umsatzes. Wir fertigten hier die Key components, die entscheidenden Bauteile, alles andere ließen wir aus Kostengründen in den Auftragsländern oder in Drittländern herstellen - natürlich nach unseren Qualitätsstandards. Zudem bieten wir bis heute in Deutschland Serviceleistungen für ältere Maschinen an. So erzielten wir als „kleine” TAKRAF auskömmliche Erträge.
MAN veräußerte uns 2006 an einen Finanzinvestor. Wir erlebten zwei weitere unsichere Jahre der „Kostenoptimierung”. Wieder spürten wir den kalten Wind des Marktes. Unsere Projekte haben ein Volumen von 2,5 bis 50 Millionen Euro. Dafür ist eine solide eigene Kapitaldecke absolut notwendig. Weil wir in der Anfangsphase nach 1990 über wenig Kapital und kaum über Aufträge verfügten, waren wir nichts als ein Spielball, ein Spekulationsobjekt. Trotz Tradition und Ingenieurskunst blieben wir nur mit eisernem Willen, Innovationsgeist und viel Glück produktiv.
Im Jahr 2007 wurden wir an den italienischen Metallurgie-Konzern Techint Tenova weiterverkauft. Die TAKRAF GmbH beschäftigt aktuell etwa 450 Mitarbeiter in Deutschland, mit den Tochtergesellschaften sind es 1300 Beschäftigte weltweit.
Ich selbst blieb bis 2010 in der Geschäftsleitung für den Standort Lauchhammer zuständig. Dann ging ich auf eigenen Wunsch in den Ruhestand. Zuvor bestätigte die Tenova Group den von mir vorgeschlagene Nachfolger. Knapp 40 Jahre war ich Helfer für die Tagebautechnik, das reichte dann doch.