Geschichten aus der Wunderkammer - ein Erzählsalon mit den Schülern der Anna-Seghers-Schule

Die Salonnière Jolanda Todt (2.v.l.) erklärt den Schülerinnen und Schülern die Regeln des Erzählsalons.
Im Rahmen des Kunstprojekts »Schatzsuche – auf der Suche nach unserer Wunderkammer« lud ich am 17. Mai 2017 den Kunst-Leistungskurs der Anna-Seghers-Schule Berlin zu einem Erzählsalon bei Rohnstock Biografien ein. Wir freuten uns sehr, die gemütliche und anregende Atmosphäre des Salons in der Schönhauser Allee für unsere Arbeit nutzen zu können. Der Erzählsalon bildete einen der Höhepunkte unseres Kunstprojekts.
Ein Gastbeitrag der Salonnière Jolanda Todt
Das Kunstprojekt der persönlichen Schätze
Ziel des Kunstprojektes war es, eine Sammlung von zeitgenössischen Wunderobjekten aus dem persönlichen Umfeld der Schüler/innen aufzubauen und einen Audioguide zu erstellen, der die Besucher/innen durch die gesammelten Gegenstände und ihre Geschichten führt. Dabei ließen wir uns von den historischen Wunderkammern inspirieren, die als „eine Welt im Haus“ bzw. als „ein Mikroorganismus aller außergewöhnlichen Sachen“ fungierten.
Wir begannen damit, uns selbst zu fragen, ob wir Gegenstände haben, die wie Schätze für uns sind und welche Geschichten für uns mit diesen Gegenständen verbunden sind. Im nächsten Schritt weiteten wir unsere Suche auf Bekannte, Freunde und Familie aus und sammelten Fragen, die uns dazu dienen würden, Geschichten und Gegenstände zu entdecken.
„Welchen Gegenstand nimmst du einmal in der Woche zur Hand, ohne ihn zu benutzen?“, „Was ist das Schönste, das du je erlebt hast?“, „Welcher Gegenstand hat dich sehr beeinflusst?“, „Erzähl mir von deiner Jugend!“, „Welchen Gegenstand würdest du nie hergeben wollen?“ … und viele andere Fragen begleiteten uns auf der Suche.

»Wunderdinge« nennen die Schülerinnen und Schüler ihre Objektsammlung, die an die historischen Wunderkammern angelehnt ist.
Lebendige Geschichten zu statischen Objekten – im Erzählsalon
Den Erzählsalon nutzten die Schülerinnen und Schüler dann, um die gesammelten Objekte vorzustellen und die damit verbundenen Geschichten zu erzählen. Die Spannbreite der zweiundzwanzig Geschichten, die erzählt wurden, war groß; die Objekte waren mit sehr unterschiedlichen Geschichten verbunden.
Es war interessant zu beobachten, wie sich aus der Situation heraus eine Dramaturgie der Erzählungen entwickelte.
Immer wieder ergab sich ein roter Faden, der die Geschichte miteinander verband und dann wieder abrupt abbrach oder sich wandelte. Mal waren es Kuscheltiere, Schlüsselanhänger und dann wieder Väter und Vorbilder, die die Geschichten zusammenhielten. Mehrmals wurde von Festivalbändchen und Reise-Souvenirs erzählt, aber auch Herzen (erhörte und ungesehene) wurden häufiger genannt.
Idole und Fanartikel spielten ebenfalls eine wiederkehrende Rolle. So erzählte eine Schülerin die Geschichte ihrer Oma, welche seit 2005 jeden Nachmittag ihren Kaffee aus einer Helene-Fischer-Tasse trinkt. Sie sagt, dass Helene Fischer sie positiv beeinflusst hat, denn sie ist glücklich, seitdem sie diese Tasse benutzt und ihren Fanschal trägt.
Kurios ging es weiter: Eine andere Schülerin erzählte die Geschichte ihres Freundes, der seit seiner Geburt von seinem Vater ausnahmslos T-Shirts mit Motiven von Fernsehserien geschenkt bekommt. Mittlerweile hat er diese Tradition aufgegriffen und schenkt seinem Vater ebenfalls nur solche T-Shirts.

Die Geschichten wurden aufgenommen und dienen nun als Material für einen Audioguide.
Andere Geschichten reichten weit in die Vergangenheit zurück. Eine Schülerin erzählte von ihrem Vater, der 1989 zu Weihnachten ein Tonbandaufnahmegerät geschenkt bekam. Er freute sich so sehr darüber, dass er sofort am selben Weihnachtsabend das familiäre Tischgespräch aufnahm. Die Schülerin entdeckte die Kassette in der Kassettensammlung ihres Vaters, weil sie die Einzige war, die keine Hülle hatte.
Eine andere Schülerin erzählte davon, wie sie mit dreieinhalb Jahren stolze Besitzerin eines blauen Ferraris wurde. Ihrem Umfeld war schon früh klar, dass sie eine „totale Automacke“ hatte. Einer ihrer ersten Sätze war: „Schau mal, da steht ein Audi A3“. Auch ihr Vater sammelte Modellautos. Er hatte seinen eigenen Fuhrpark, der auch einen blauen Ferrari beinhaltete, den die Tochter schon lange begehrte. Bis heute erinnert sie sich an den Tag, an dem ihr Vater sich dazu entschied, ihr den blauen Ferrari zu vermachen.
So vielfältig die Geschichten thematisch auch waren, so zeigten sie immer wieder, dass die Gegenstände nur Verweise sind auf erinnerte Erlebnisse, die meistens mit nahestehenden Menschen, Wendepunkten oder wichtigen Selbsterfahrungen in Bezug auf die eigene Identität zu tun haben.
Der Erzählsalon
Erzählen gehört zu den ältesten Kommunikationsformen, in denen Wissen und Erfahrungen weitergegeben werden. Damit erzählt wird, braucht es Raum, Gelegenheit und Rituale. Der Erzählsalon bietet genau dies. Rohnstock Biografien führt seit 2012 Erzählsalons an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Themen und in unterschiedlichen Zusammenhängen durch, zuletzt in der Lausitz: Über ein Jahr brachten wir dort Menschen aus fünf Lausitzer Orten an einen Tisch. Mehr dazu unter: www.lausitz-an-einen-tisch.de.
Jolanda Todt
Jolanda Todt ließ sich von Rohnstock Biografien zur Salonnière ausbilden. Die Berliner Künstlerin und Designerin ist für diverse Agenturen, Kulturinstitution und Künstlergruppen tätig und initiiert selbst Kunstprojekte. Mehr zu ihrer Arbeit auf: www.jolandatodt.de.