Matthias Schutza – »Der lange Weg zur Selbstständigkeit - Als Nachfolger im Traditionsbetrieb«
Das Projekt „Erfahrungen und Potenziale an einen Tisch – Unternehmergespräche im Lausitz Lab“ brachte 2017/2018 Lausitzer Unternehmer in Erzählsalons zusammen. Einer der Erzähler war Matthias Schutza. Lesen Sie hier seine Geschichte.
Ich übernahm am 1. August 2016 Weiland’s Backstube und bin damit am Ziel meines bisherigen beruflichen Weges angekommen. Bei Weiland wird das Handwerk gelebt. Aus Forst stammend zog die vorletzte Generation der Bäckerfamilie nach Cottbus und ist seit über hundert Jahren mit Weiland’s Backstube am Standort ansässig. Ich führe das traditionsreiche Geschäft weiter.
Den Bäckerberuf erlernte ich in einer kleinen Handwerksbäckerei in Forst. Die Gesellenzeit führte mich zurück in meine Geburtsstadt Cottbus. Nach drei Gesellenjahren beschloss ich: „Wenn ich schon einen Handwerksberuf erlerne, dann soll mich das auch in die Selbstständigkeit führen. Ich mache jetzt meinen Meisterbrief.“
Ich besuchte die Sächsische Bäckerfachschule in Dresden und schloss als Bester meines Jahrgangs ab. Obendrein war ich einer der besten Jungmeister Dresdens. Deshalb wurde ich von meiner Schule als übergangsweiser Ersatz für die Konditorlehrerin angeworben. Das passte wunderbar, lag mir das Konditorhandwerk doch besonders am Herzen.
Ich war 23 Jahre alt, meine Schüler im Meisterkurs für Konditoren im Durchschnitt Mitte dreißig. Ich konnte den Altersunterschied jedoch fachlich wettmachen. Einer meiner Schüler, ein gestandener Konditormeister Mitte fünfzig, bemerkte anerkennend: „Dem kann ich nichts vormachen, der ist echt spitze!“
Als mein befristeter Vertrag auslief, wollte ich als Meister wieder ins Berufsleben einsteigen. Leichter gesagt als getan. In unserer Region ein Unternehmen zu finden, das einen Meister einstellt – für das entsprechende Gehalt – ist nahezu aussichtslos. Aber ich bin Lausitzer, in Cottbus geboren, und wollte meine Heimat nie verlassen.
Ich schaltete eine Chiffreanzeige bei der Handwerkskammer Cottbus und erhielt das Angebot, in einer Bäckerei in Lübbenau zu arbeiten. Ich bin jedoch Handwerker aus Leidenschaft! Weil das Handwerk in dieser Bäckerei nicht so gelebt wurde, wie ich es mir vorstellte, suchte ich nach acht Wochen das Weite.
Als nächstes ging ich in die Spitzengastronomie. In der Kolonieschänke in Burg im Spreewald buk ich Kuchen und Feingebäck. Wenn Not am Mann war, kochte ich oder kümmerte mich um den Service. Ich arbeitete auch an der Rezeption. Wurde ich gefragt: „Wer sind Sie eigentlich hier im Hause?“, lautete meine Antwort: „Ich bin der Mann für alles.“
Die Abwechslung machte mir Spaß. Ich fühlte mich pudelwohl und dachte: Dieser Job ist für die Ewigkeit. Von der Geschäftsführerin lernte ich eine Menge. Außerdem kümmerte ich mich um meine Qualifizierung. Weil es mit meinem ersten Meisterbrief so gut geklappt hatte, sagte ich mir: „Mach doch noch deinen Konditormeister!“
Ich nahm an einem Förderprogramm der Handwerkskammer teil und absolvierte den Meistervorbereitungslehrgang bei der IGV in Potsdam-Rehbrücke. War ich noch in Dresden der Beste meines Jahrgangs gewesen, stieß ich hier an meine Grenzen. Genauer gesagt: an Generationengrenzen.
In der Spitzengastronomie hatte ich mir einige Rezepte einfallen lassen. Ich buk Kürbiskern- oder pikanten Kartoffel-Baumkuchen, kochte süße Dinkel-Risotto und dergleichen mehr. Nun sah ich mich einer Prüfungskommission mit einem Durchschnittsalter von über fünfundsechzig Jahren gegenüber. Vieles von dem, was ich anbot, verstanden sie nicht. Da die meisten der Prüfer nicht als selbstständige Konditoren tätig waren, wussten sie nicht, was die Kunden verlangten. „Leute, das funktioniert so nicht!“, dachte ich bei mir. „Wie wollt ihr junge Leute für den Beruf begeistern, wenn hier nur alte Männer sitzen?“
Von der Meisterschule in Dresden kannte ich es anders. Dort lebten sie den Handwerkstolz und keiner in der Prüfungskommission war älter als vierzig. Letztlich absolvierte ich die Konditormeisterprüfung zu meiner – und der Prüfer – Zufriedenheit, ebenfalls als bester meiner Meisterklasse. Inzwischen bin ich selbst als Prüfer für Konditormeister zugelassen.
Meine Zeit in der Gastronomie in Burg war schön. Leider musste die Geschäftsführerin 2013 gehen, weil es private Differenzen zwischen ihr und dem Inhaber des Hauses gab. Nun stand ich an vorderster Front. Im Grunde leitete ich das Haus. Niemand fragte, ob ich die Verantwortung übernehmen wollte oder nicht – ich tat es einfach. Erst nach zwei Jahren entschied der Eigentümer des Hotels, einen neuen Geschäftsführer zu suchen.
„Warum tust du das?“, fragte ihn das Team. „Wir haben doch einen, der das gut macht!“ Die Zahlen hatten sich nicht verschlechtert, ganz im Gegenteil. Es lief wunderbar. Aber der Inhaber blieb dabei: „Ein Geschäftsführer muss her!“
Einige Kandidaten stellten sich vor. Ich merkte schon beim Hereinkommen: Das passt nicht. Wir waren ein besonderes Haus, ein Bio-Hotel. Gemeinsam hatten wir das Bio-Label durchgesetzt. Es hatte Abende gegeben, an denen standen wir heulend in der Küche, weil wir so fertig waren. Die erste Zeit zehrte an der Substanz, doch nach dem zweiten Jahr ging es aufwärts. Wir erwirtschafteten hervorragende Zahlen, die Arbeit machte riesigen Spaß. Diese Erfahrung schweißte unser Team zusammen. Noch heute treffen wir uns regelmäßig zum Stammtisch. Die Stammkundschaft liebte uns. Sie kamen nicht nur wegen des Essens, sondern unseretwegen! Eine tolle Bestätigung.
Ich bot unserem Chef an, die Position des Geschäftsführers offiziell zu übernehmen: „Hör zu, ich mache das. Aber wir müssen übers Geld reden.“
Darauf folgte sein Spruch: „Wegen hundert Euro brauchen wir uns doch nicht zu unterhalten.“
„Häng an die Hundert noch eine Null dran, dann kommen wir langsam in nennenswerte Bereiche.“
Damit war das Thema vom Tisch. Mein Chef gab ungern Geld fürs Personal aus. Also verließ ich Burg.
Im April 2015 wechselte ich zum Schokoladenhersteller felicitas in Hornow. Ich leitete das Café und die gesamte Gastronomie. Um den gastronomischen Bereich auf Vordermann zu bringen – er war ohne Fachpersonal aufgebaut worden und gehörte nicht zum Kerngeschäft der Confiserie – räumte ich ordentlich auf. Innerhalb des ersten Vierteljahres entließ ich einige Mitarbeiter, die nicht vom Fach waren und stellte neue ein. Ich merkte jedoch schnell: Mit meiner Eigeninitiative tat sich die Unternehmensleitung schwer.
Eines schönen Tages entdeckte ich bei der Handwerkskammer eine Chiffreanzeige aus Cottbus und sah meine Chance gekommen. „Bei der angegebenen Zahl der Mitarbeiter und Filialen kann das eigentlich nur Weiland sein,“ überlegte ich. Alle anderen Bäckereiunternehmen dieser Größe hatten entweder bereits einen Nachfolger oder waren neu auf dem Markt. Als das erste Treffen bei der Handwerkskammer anstand, traten tatsächlich die Weilands zur Tür herein.
Wir waren uns schnell sympathisch. Die Weilands freuten sich, dass sie einen Interessenten für ihr Geschäft gefunden hatten. Denn im Handwerk, und besonders bei den Bäckern, sind mögliche Nachfolger rar. Es besteht die Gefahr, dass unser Beruf in den nächsten Jahren sang- und klanglos untergeht. Dabei gehören wir zu den traditionellen Handwerksberufen, die etwas wert sind.
Die Weilands stellten mich zunächst als Bäcker ein. Ich arbeitete als normaler Angestellter und war zugleich als Nachfolger in spe vor Ort. Es lief gut an. Auch die Zahlen stimmten. Die Familie Weiland hatte ihre Schäfchen längst im Trockenen. Sie wohnten zwar noch über der Bäckerei, besaßen aber bereits eine Eigentumswohnung, in die sie nach der Geschäftsübergabe umziehen wollten. Sie waren nicht darauf angewiesen, dass der Nachfolger ihnen eine große Ablöse zahlte. Obendrein waren sich die drei Töchter einig: „Wir möchten mit dem Geschäft nichts zu tun haben. Lasst uns da bitte raus.“
So einfach, wie wir es uns vorstellten, lief der Übergabeprozess jedoch nicht. Eine Tochter der Weilands – sie ist Rechtsanwältin und Steuerberaterin – half uns, die Verträge aufzusetzen. Ich zog eine externe Unternehmensberaterin hinzu, die meine Interessen als Käufer vertrat. Eine sensible Angelegenheit! Kommt ein Dritter mit an den Tisch, muss er genau zu den Beteiligten passen. Ich hatte zunächst einen Berater in petto. Als reiner Zahlenmensch erwies er sich jedoch als ungeeignet. Es standen eine Menge Emotionen im Raum. Die Weilands führten das Unternehmen in der vierten Generation. Die Entscheidung: „Wir geben es aus der Familienhand“, war für sie ein gewaltiger Schritt.
Ich suchte mir also jemand Anderes. Meine Wahl fiel auf eine Frau, die ich seit Jahren gut kannte, die über jahrelange Erfahrung und einen guten Ruf verfügte. Es lief von Anfang an sehr harmonisch. Wir fanden stets eine gemeinsame Ebene.
Die Weilands legten alles auf den Tisch: „Hier sind die Bücher der letzten fünfzehn Jahre, guckt sie euch an.“ Damit konnten wir wunderbar arbeiten. Schnell war der Businessplan geschrieben. Durch die Unternehmensberaterin verfügten wir über gute Kontakte zu den Banken.
Diese Hilfestellung brauchte ich, denn als Angestellter hatte ich keine größere Summe zurücklegen können. An einer Standardfinanzierung mit zehn oder fünfzehn Prozent Eigenkapital wäre ich gescheitert.
Wir hofften zunächst auf die ILB, die uns fördern wollte – und eine Woche vor Vertragsabschluss doch noch absagte.
Schließlich gelang die Finanzierung durch meine Hausbank – dank des Kundenberaters, der an das Projekt und an mich glaubte. „Hör zu, wir knüppeln das jetzt durch,“ sagte er. „Wir kriegen das hin.“ Nachdem wir um ein Haar an der Finanzierung gescheitert wären, gelang uns die Übergabe.
Ein halbes Jahr arbeitete ich als Angestellter im Unternehmen und lernte alle Arbeitsabläufe kennen. Warum ich wirklich hier war, durfte keiner wissen. Die anderen beobachteten mich dennoch. Nach vier Monaten fragte mich eine Kollegin: „Und wann kaufst du die Bude nun endlich?“
Wir konnten es nicht mehr verbergen. Als die Finanzierung stand, beraumten wir ein offizielles Treffen an, um der Mannschaft den Inhaberwechsel zu verkünden. Eigentlich waren alle glücklich, eigentlich. Das Unternehmen hatte bis dahin offiziell Herrn Weiland gehörte. Frau Weiland war bei ihm angestellt, im Unternehmen wurde das jedoch anders gelebt. Die Frau war die Chefin. Am 1. August 2016 drehten wir den Spieß um. Frau Weiland war von nun an meine Angestellte, und ich der Chef, nicht nur auf dem Papier.
Auch Herr Weiland blieb als Bäcker im Unternehmen. „Ich helfe dir, wenn du mich brauchst,“ sagte er. „Aber ich will hier nichts mehr verdienen.“
Schnell kristallisierte sich heraus, dass die Weilands ein Problem hatten, auf mich zu hören. Das verstand ich, schließlich hatten sie das Unternehmen über vierzig Jahre geleitet. Zudem pflege ich einen gänzlich anderen Führungsstil als meine Vorgänger. Ich bin bis heute nicht der Chef, der über allen steht – ich bin der Matthias. Und ich rede mit meinem Team offen über Zahlen. Wenn es eng wird, müssen es die Angestellten wissen. Schließlich leben sie genauso im Unternehmen wie ich und tragen ebenfalls Verantwortung.
Bald bemerkte ich, dass sich Herr Weiland mehr und mehr zurückzog. Eines Abends nahm mich seine Frau beiseite: „Bitte, lass ihn daheim. Er schafft das nicht mehr. Er kommt damit nicht klar.“
„Gut“ sagte ich, obwohl wir damit in einen Engpass gerieten. Wir mussten seine Stelle neu besetzen.
Aber wo finden sich gute Mitarbeiter? In der Gastronomie lernte ich: Willst du gute Kellner, musst du sie abwerben. Du gehst also bei der Konkurrenz essen und guckst dir das Personal an. Dem besten Kellner legst du ein schönes Trinkgeld hin und fragst: „Was verdienst du?“
„Mindestlohn.“
„Wir zahlen mehr“, sagst du darauf – und hast einen neuen Kellner.
In der Gastronomie ist das normal. Selbst auszubilden stellt keine Lösung dar, denn gute Azubis sind gefragte Leute und nach der Lehre schnell weg. Sie gehen in die großen Hotels nach Berlin oder studieren und wechseln ins Management. Darauf können wir als Ausbilder stolz sein, aber Nachwuchs für unser eigenes Unternehmen bekommen wir so nicht.
Wir hatten Glück. Nach kurzer Zeit konnten wir Herrn Weilands Stelle neu besetzen. Von der übrigen Belegschaft verließ keiner die Bäckerei. Dennoch musste ich mich der heiklen Frage stellen, wie die Mannschaft mit dem Führungswechsel umgehen würde. Viele der Angestellten hatten sich an den hierarchischen Führungsstil von Frau Weiland gewöhnt. Wenn sie kam, standen alle stramm. Damit fuhr das Geschäft über vierzig Jahre lang gut. Ich wollte es jedoch anders machen. So gestatte ich meinen Verkäuferinnen ihre Freiheiten. Sie dürfen sich mit den Kunden unterhalten und gern einen Witz machen. Davon lebt das Geschäft.
Die meisten Angestellten begrüßen meine Neuerungen. Ein Kollege, der seit 27 Jahren im Unternehmen ist, zeigte sich ausgesprochen froh: „Endlich kommt jemand, der etwas neu macht.“ Er ist über fünfzig und bringt zunehmend eigene Ideen ein. Ich merke, dass er sich mit der Firma verbunden fühlt und nehme seine Vorschläge gern an: „Klar, das überzeugt mich. Wir machen es so, wie du es möchtest.“
Er führt die Backstube inzwischen am Wochenende.
Mit einer Verkäuferin geriet ich jedoch kürzlich aneinander: „Bei Weilands haben wir das aber anders gemacht,“ sagte sie. Da wurde ich ausnahmsweise laut: „Weißt du, ich habe dein Schimpfen ein Jahr lang ertragen, aber nun ist Schluss! Entweder du akzeptierst, wie es jetzt ist, oder du entscheidest dich, zu gehen.“
Da Familie Weiland direkt über der Backstube wohnte, waren sie sieben Tage die Woche 24 Stunden vor Ort und sofort zur Stelle, wenn etwas anlag. Ich musste für mich das richtige Maß finden, um den Anforderungen des Personals gerecht zu werden. Anfangs dachte ich: „Auch ich muss immer ansprechbar sein!“ Ich probierte es und blieb bis zu vierzehn Stunden am Tag im Geschäft. Ein solches Pensum schafft man ein viertel, auch ein halbes Jahr lang. In der Anfangszeit war ich voller Energie, zwei Stunden Schlaf reichten. Irgendwann fiel ich jedoch in ein Loch.
Meine Unternehmensberaterin half mir in dieser Zeit. Über die Jahre unserer Zusammenarbeit wurden wir gute Freunde. Als sie merkte, dass ich in den Seilen hing, übernahm sie das Büro. Nach ihrer eigenen Arbeit kümmerte sie sich um meine Abrechnungen – und ich konnte schlafen. Sie ging, genau wie ich, an ihre Grenzen. Nur weil ich solche Leute hinter mir wusste, funktionierte ich. Telefonierten wir, fragte sie als erstes: „Wie lange hast du heute geschlafen? Das ist das Allerwichtigste, Matthias!“
Als ich das Gefühl hatte, auszubrennen, sagte ich mir: „Das muss ich mir nicht antun.“
Heute arbeite ich von Montag bis Freitag – stehe jeweils sechs Stunden in der Backstube und sitze anschließend eine Stunde im Büro. Am Wochenende führt das Personal die Regie. Wenn ich montags in die Backstube komme, ist alles vorbereitet. Ich vertraue meinen Mitarbeitern voll und ganz. Und sie können sich auf mich verlassen. Beides gehört fest zusammen.
Mir ist wichtig, dass die Mitarbeiter regelmäßig am Zehnten des Monats ihr Geld bekommen, schließlich müssen sie ihren privaten finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Können sich meine Leute auf mich verlassen, folgen sie mir durch Dick und Dünn. Denn was nützen mir handwerkliche Meisterschaft und all meine Ideen, wenn meine Verkäuferinnen die Produkte nicht mit Überzeugung an die Kunden bringen und hinter unseren Waren stehen!
Um unsere Kundschaft hatten wir uns schon zu Beginn des Übergabeprozesses Gedanken gemacht. Wir befürchteten, Stammkunden zu verlieren. Womöglich würden sie denken: „Jetzt ist es nicht mehr Weiland!“ Deshalb hängten wir die Geschäftsübergabe nicht an die große Glocke. Vor wenigen Tagen fragte mich eine Stammkundin: „Sind Sie jetzt wirklich der Neue?“
„Ja“ sagte ich, „schon seit über einem Jahr.“
„Echt? Ich habe das gar nicht mitbekommen.“
Wunderbar, denke ich da.
In der Nähe unseres Hauptgeschäfts in der Karlstraße in Cottbus leben vor allem junge Menschen, darunter viele Studenten. Wir sind eine Vollkornbäckerei, unser großes Angebot an Vollkornprodukten trifft ihren Geschmack. In unserem Laden in Sandow dagegen beträgt das Durchschnittsalter der Kundschaft über sechzig. Die Verkäuferin steht seit zwanzig Jahren hinter der Theke. Dort heißt es: „Ich nehme meine zwei Semmel und drei Stückchen Kuchen, so wie immer – und wie war der Arztbesuch?“ Ähnlich geht es in Sielow vonstatten. Dort stehen meine beiden Goldstücke hinter der Verkaufstheke. Die Kunden kommen nicht nur zu ihnen, um frische Brötchen zu kaufen, sondern auch, um die neuesten Geschichten aus dem Dorf auszutauschen. Diese soziale Bindung darf ich nie aus den Augen verlieren.
Weil das Geschäft immer besser lief, rekrutierte ich weitere Mitarbeiter für den Verkauf und die Backstube sowie einen Bankkaufmann, der das Büro managt. Als zwei meiner Verkäuferinnen in Mutterschutz gingen, musste ich erneut aufstocken. Eines Tages klingelte das Telefon und eine Frauenstimme sagte: „Zum Ende des Jahres läuft der Vertrag bei meiner jetzigen Firma aus. Kann ich mich bei Ihnen vorstellen?“
„Ja, gern! Kommen Sie einfach vorbei.“
„Wie?“, staunte die Frau, „so schnell geht das? Aber ich habe meine Bewerbung noch nicht fertig.“
„Das ist nicht schlimm, für mich zählt ohnehin der Mensch.“
Die Dame kam vorbei. Sie war bereits sechzig Jahre alt und sagte: „Na, Hauptsache Sie haben kein Problem mit meinem Alter.“
„Hauptsache Sie haben kein Problem mit meinem Alter“, entgegnete ich, und das Eis war gebrochen. Wir stellten sie ein – und auch sie erwies sich als echtes Goldstück. Sie ist eine Frau mit Lebenserfahrung und steht ganz anders hinter der Theke, als unerfahrene junge Leute.
An meinem Geburtstag trat sie zu mir, umarmte mich und sagte: „Matthias, ich danke dir, dass ich das noch erleben darf in meinem Alter.“
In diesem Augenblick dachte ich: Irgendetwas hast du als Chef wohl richtiggemacht.