Peter Mühlbach - Als der Westen zu uns kam
Das Projekt „Erfahrungen und Potenziale an einen Tisch – Unternehmergespräche im Lausitz Lab“ brachte 2017/2018 Lausitzer Unternehmer in Erzählsalons zusammen. Einer der Erzähler war Peter Mühlbach. Lesen Sie hier seine Geschichte.
Das Ende meines Berufslebens ist absehbar. 2022 erreiche ich das reguläre Rentenalter und werde dann 31 Jahre bei ABB sein. Meine Verbundenheit mit dem Betrieb reicht allerdings in die Zeit der DDR zurück.
Während wir in Dresden studierten, brachte meine Frau unser erstes Kind zur Welt. Mit den Studienabschlüssen in der Tasche – ich als Diplomingenieur für Gerätetechnik –, suchten wir zuerst nach einer Wohnung, nicht nach Arbeit. Denn Arbeitsstellen ließen sich zu DDR-Zeiten mitunter leichter finden als Wohnungen. In Cottbus, woher ich stamme, wurden wir fündig. Danach stellte ich mich beim VEB Starkstromanlagenbau Cottbus vor und wurde als Entwicklungsingenieur unter Vertrag genommen. Zunächst arbeitete ich als »Erzeugnisverantwortlicher« (heute würde es »Produktmanager« heißen) für ein Überwachungsgerät für Bandanlagen, später wurde ich Gruppenleiter für die Automatisierung von Tagebaugeräten.
Als 1990 die Wende kam, mussten wir uns gewaltig umstellen. Jeder überlegte: »Bleibe ich hier oder gehe ich in den Westen?«
Mein Bruder entschied sich fürs Gehen, ich blieb. Unser zweites Kind war unterwegs und ich wollte unsere junge Familie nicht mit dem Pendeln belasten. Der Zufall spielte mir in die Karten: Ich musste nicht in den Westen gehen, denn der Westen kam zu mir. Der mittlerweile in VEB Automatisierungsanlagen Cottbus umbenannte Betrieb wurde 1991von ABB übernommen.
Mit der Übernahme begann die Belegschaft in Cottbus, kontinuierlich zu schrumpfen. Von einstmals 3000 Mitarbeitern ist heute nur noch ein Bruchteil übrig – doch es genügt nicht, die reinen Zahlen nebeneinanderzustellen, um eine Bilanz zu ziehen. Die Wertschöpfungsketten und die Produktivität haben sich komplett verändert. Daher lassen sich die Systeme schwer miteinander vergleichen.
Für mich ging es in einem neuen Geschäftsbereich weiter, der sich mit Elektrotechnik- und Automatisierungssystemen für Wasserver- und -entsorgungsanlagen beschäftigte. Auf diesem Gebiet gab es einen großen Modernisierungsbedarf in Ostdeutschland. Deshalb sah ich in der neu gebildeten Unternehmenseinheit Aufstiegschancen. Eine gute Entscheidung: Überall wurden neue Kläranlagen gebaut, schnell übernahm ich Führungsverantwortung.
ABB baute alle Bereiche als sogenannte Profitcenter auf. Diese wirtschafteten wie kleine Unternehmen innerhalb der großen Firma. Der Leiter eines Profitcenters wurde am Ergebnis gemessen, an Gewinn und Verlust. Rasch musste ich mir deshalb das Einmaleins des Unternehmertums aneignen. Für einen gelernten DDR-Bürger eine völlig neue Herausforderung. Die eine oder andere Basis-Schulung wurde geboten, ansonsten warf man uns ins kalte Wasser. »Learning by doing« – doch mit straffem »Reporting« an die Unternehmensführung.
Nach einigen guten Jahren ging der Umsatz zurück. Die neuen Bundesländer waren inzwischen gut mit Kläranlagen versorgt. Profitcenter wurden zusammengelegt und ich musste nun doch für eine Weile in den Westen pendeln, vorwiegend nach Mannheim, um von dort deutschlandweit für die Wassersparte zu arbeiten.
Als 2005 die Stelle des Leiters der Tagebautechnik frei wurde, bewarb ich mich, um wieder von Cottbus aus arbeiten zu können. Die Stelle war mit einer größeren Führungsverantwortung verbunden und deutlich besser bezahlt.
Ich bekam den Zuschlag – und erlebte bald darauf schlaflose Nächte, weil die nächste Restrukturierung beschlossen wurde. Dies bedeutete: Personalabbau. Bereits in der Wassersparte hatte ich solche Erfahrungen machen müssen, denn ich war für das Personal und die entsprechenden Kosten zuständig.
Die Einschnitte waren zwar schmerzlich gewesen – schließlich hatte ich oft jahrelang mit den Kollegen zusammengearbeitet – doch zahlenmäßig überschaubar. Im Bereich Tagebau musste ich nun auf einen Schlag 25 Mitarbeiter entlassen: eine mehr als unangenehme Erfahrung und kein einfacher Einstieg in die neue Position.
Zudem verringerte sich meine Entscheidungsfreiheit. Obwohl ich vor Ort Gewinnverantwortung trug, wurden die wichtigen Entscheidungen auf anderen Ebenen getroffen. Manchmal konnte ich meine Vorgesetzten überzeugen, das meiner Meinung nach Richtige zu tun, manchmal nicht. Um weiterzukommen, trieben wir die Internationalisierung voran. Bei sehr vorteilhaften Rohstoffpreisen zu Zeiten des »Mining Booms« wurde überall auf der Welt kräftig investiert. Durch unsere Geschäftsbeziehung mit der heutigen LEAG, die nach der Wende alle Anlagen grundlegend modernisierte, waren wir technologisch auch global auf Spitzenniveau. Dieses Know-how ließ sich international gut vermarkten.
Etwas Neues anzustoßen ist nicht leicht. Es gibt auch Widerstände in der eigenen Firma. Als ich in Cottbus als Leiter des Tagebau-Bereichs anfing, sagten einige: »Der hat ja keine Ahnung. Er hat 15Jahre lang etwas ganz anderes gemacht und nur im Inland gearbeitet.«
Zum Beispiel versuchten wir, einen Kunden in den USA zu überzeugen, unsere Antriebe einzusetzen. Dabei ging es um den Weltmarktführer für elektrisch angetriebene Löffelbagger, die Firma P&H, die zwischenzeitlich vom japanischen Industriekonzern Komatsu übernommen wurde. P&H arbeitete bis 2007 ausschließlich mit Gleichstromantrieben. Doch wir wollten sie von unserer Wechselstromtechnik überzeugen, die wir hier im heimischen Revier schon erfolgreich zum Einsatz gebracht hatten. Ein schwieriger Versuch, der sogar in Cottbus selbst skeptisch gesehen wurde: »Das funktioniert von hier aus nie«, hieß es.
Die Idee, unsere Antriebssysteme anzubieten, hatte ich nicht selbst – wir haben tolle Experten –, doch ich setzte mich dafür ein, den Vogel zum Fliegen zu bringen. Drei Jahre lang zweifelten meine Chefs am Erfolg des Pilotprojekts, weil trotz des großen Engagements keine neuen Aufträge hereinkamen. Sie wollten schneller Ergebnisse und nicht nur Konzepte und Versprechungen sehen. Der ABB-Konzern ist börsennotiert und muss seinen Aktionären und dem Kapitalmarkt in jedem Quartal die Ergebnisse präsentieren. Diese setzen sich letztlich aus den Einzelergebnissen der Einheiten zusammen.
Wenn die Zahlen den Erwartungen entsprechen, ist alles gut. Wenn nicht, muss man um Vertrauen werben, dass die Vorgaben bald erfüllt werden. Die Geduld ist begrenzt und man muss liefern, ansonsten droht die nächste Restrukturierung. Wir waren beharrlich und konnten die ersten P&H-Bagger erfolgreich auf Wechselstromantriebe umstellen. Diese Antriebe sind deutlich effizienter als die bis dahin eingesetzten und halfen unserem Kunden, seine führende Position im Weltmarkt zu behaupten. Inzwischen konnten wir über einhundert Antriebspakete für Bagger in alle Erdteile liefern; zwischenzeitlich wurde die komplette Flotte von P&H auf unsere Technik umgestellt. Diese profitablen Aufträge trugen wesentlich dazu bei, den ABB-Standort Cottbus zu erhalten.
Bis 2013 – auf der Höhe des Rohstoffbooms – blieben unsere Quartalszahlen auf hohem Niveau, seither sinken sie wieder. Bei der LEAG, unserem lokalen Kunden, wird nun weniger Geld ausgegeben. Darum suchen wir verstärkt nach neuen Geschäftsfeldern für den Exportmarkt.
Sollte uns unser eigener Strukturwandel nicht gelingen, würde mir das keine existenziellen Probleme bereiten – schließlich stehe ich am Ende meiner beruflichen Laufbahn. Dennoch möchte ich nicht mit dem Bewusstsein gehen, dass unser Standort keine wirkliche Zukunft hat und alles, was wir aufbauten, demnächst wegstrukturiert wird. In meinem Berufsleben ist es mir gemeinsam mit anderen mehrfach gelungen, unserem Standort neue Perspektiven zu eröffnen. Deshalb will ich gern mithelfen, die erforderliche Neuausrichtung auf den Weg zu bringen, bevor ich den Staffelstab weitergebe.