Von der Kindheit erzählen - Neue Erzählsalon-Reihe im sächsischen Riesa startet

Die Themen zur Kindheit sind vielfältig. Genauso vielfältig war auch die Erzählrunde in Riesa.
Über die Kindheit zu erzählen kann schön sein – oder grauenvoll, je nachdem, wo und wann sie sich ereignete. Auf jeden Fall erzählen Kindheitsgeschichten – und mögen es auch noch so kleine Erinnerungssplitter sein – immer auch etwas über die Zeit, den Zeitgeist, die große Geschichte.
Im sächsischen Riesa finden seit November 2017 Erzählsalons im Rahmen des Projekts »Mit kleinen Schritten in die große Welt – Kind sein in Riesa im 20. und 21. Jahrhundert« statt. Das Stadtmuseum Riesa lädt zusammen mit Rohnstock Biografien Bewohnerinnen und Bewohner ein, ihre Erinnerungen an ihre Kindheit in der Stadt zu erzählen. Der erste Erzählsalon am 17. November bot den Riesaern den Raum, ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen zu schildern.

Die Salonnière Katrin Rohnstock begrüßt die Erzählerinnen und Erzähler.
Jung und Alt kamen zum ersten Erzählsalon in Riesa und fanden sich dafür im Mehrgenerationenhaus Gröba ein. Der älteste Teilnehmer war 96 Jahre alt, die jüngste Erzählerin 12 Jahre. Das misst nicht nur fast ein Jahrhundert, es misst auch Länder und Kulturen. Denn die Erzählerinnen und Erzähler stammen aus Syrien, aus Schlesien und Sachsen. Was sie heute in Riesa unter anderem miteinander verbindet, sind ihre Kriegs- und Nachkriegserfahrungen.
Die Flucht aus Schlesien damals
Es sind die kleinen Details, die das Leben beschreiben und lebendig werden lassen. Eine Frau erzählte, wie sie es als Dienstmädchen im Krieg immer gehasst hatte, Quark zu essen und es doch in der Hungerszeit lernen musste, um überhaupt etwas zu sich zu nehmen. Aus Schlesien war sie allein mit ihrer Mutter nach Riesa gekommen. Der Vater war – wie Millionen andere Väter – im Krieg geblieben. Mit der Mutter hatte sie sich ein Zimmer und ein Bett geteilt bis sie zwanzig war. Dann war sie in eine Familie mit vier Kindern gegangen. Dort hatte sie unter anderem die Wäsche gewaschen, natürlich mit einem Waschbrett. Während die Frau erzählte, zogen langsam wieder ihre Erinnerungen auf. Wie im Erzählsalon üblich, war zu erkennen: Je mehr man erzählt, umso mehr erwachen die Erinnerungen. Ja, da gab es doch noch die Mehlpampe, genannt „Stalinfett“. Und Kinder, die den eigenen Vater nicht kannten: „Mutter, wann geht der fremde Mann endlich wieder?“

Das Stadtmuseum Riesa möchte mit dem Projekt die Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten für das Aufwachsen von Kindern ergründen und vermitteln.
Eine andere Frau, Jahrgang 1937, hatte nach dem Krieg mit der Großmutter Baumrinde sammeln müssen. Die wurde als Heizmaterial ins Feuer geschmissen. Das machte eine schöne, wenn auch kurze Wärme im eiskalten Winter 1946. Holz war zu dieser Zeit längst nicht mehr zu finden. Und wer welches schlug, wurde hart bestraft. Von ihrer Großmutter hatte die Erzählerin alles gelernt, was im Leben wichtig war, vor allem die Maxime: „Jeder muss dem anderen helfen!“ Nur so sind sie damals durchgekommen.
Ein Erzähler, Jahrgang 1963, aufgewachsen in Gröba, hatte zum Heizen die Kohlen immer mit dem Handwagen holen müssen. Und für den Vater musste er oft Bier holen, im Gasthof. Dort hatte es Bier bis in die Nacht gegeben. Dieser Biertrinker war der zweite Mann seiner Mutter gewesen. Insgesamt hatte der Erzähler vier Geschwister. Als der Erzähler 1963 geboren wurde, da war die Mutter schon alt und hatte eine Flucht aus Schlesien hinter sich.

Nicht nur die Kinder der Stahlwerker, auch die anderen Kinder der Stadt, durften in die vom Stahlwerk Riesa organisierten Ferien fahren, erzählte eine Teilnehmerin.
Eine gebürtige Riesaerin erinnerte sich im Erzählsalon an die brechend vollen Züge, die am Ende des Krieges durch Riesa fuhren. Die Menschen hatten in den Türen gehangen oder auf den Waggondächern gelegen. Viele Menschen hatten ihre Heimat verloren und wollten irgendwohin. Sie selbst hatte an der Elbe gewohnt. Damals wurde auf der Elbe noch Holz geflößt und die Flößer waren dabei von Stamm zu Stamm gesprungen. Als sich die wirtschaftliche Lage in den 1950er Jahren wieder etwas stabilisiert hatte, gab es Sonntagsausflüge als Zeichen der Normalität und als Ausdruck eines ersten bescheidenen Wohlstands. Mit den Eltern war sie mit dem Raddampfer auf der Elbe gefahren. Um ein bisschen aufgepäppelt zu werden, wurden die vielen Kinder in ein Zeltlager geschickt, organisiert vom Stahlwerk Riesa. Und heute?
Die Flucht aus Syrien heute
Im Kontrast zu diesen Erzählungen über damals folgten anschließend die Erzählungen der Flüchtlingskinder von heute. Ein Mann aus Syrien brachte die Kinder mit in den Erzählsalon. Er selbst war 1979 aus Syrien für ein Studium der Architektur in die DDR gezogen. Nun kümmert er sich um seine Landsleute, die heute nach Riesa kommen.
Die syrischen Kinder sprachen nicht über ihre Kindheit in Riesa. Sie meinten, Sie seien hier angekommen. Irgendwie. Sie gehen zur Schule, sie lernen Deutsch. Sie haben eine Flucht hinter sich, von der sie womöglich erzählen werden, wenn sie so alt sind wie die deutsche Kriegskindergeneration von heute. Die Jüngste der Erzählrunde kommt aus Syrien. Sie konnte nicht über ihre Kindheit in Riesa erzählen, weil die Flucht, die die kleine Palästinenserin vor drei Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern über den Libanon unternahm, alles überlagert.
Ein Junge erzählte dann doch, wie er alleine mit seinem Onkel nach Riesa gekommen ist und nun bei der Familie des Onkels lebt. Seine Mutter, der Vater und seine Geschwister hängen in der Türkei in einem Camp fest. Es ist sehr kalt dort, betont der Junge. Auch auf der Flucht sei ihm immer sehr kalt gewesen. Heute hat er keine Lust mehr zur Schule zu gehen – ohne die Aussicht, seine Familie bald wiederzusehen. Ob die Politiker, die jetzt über ein Einwanderungsgesetz diskutieren, ein solches Schicksal kennen?