Es ist wichtig, dass es den Tag der älteren Generation gibt. Er bietet Anlass, über die Bedeutung der alten Menschen für die Gesellschaft nachzudenken. Mit meinem Team von Rohnstock Biografien fördere ich, Katrin Rohnstock, seit 25 Jahren ihren Erfahrungsreichtum zutage und helfe dabei, diesen zu bewahren – in Erzählsalons, in Büchern. Wir haben bei unserer Arbeit immer wieder Freude daran, den Lebensgeschichten betagter Menschen zu lauschen. Das ist unser täglich Brot. Dabei erfahren wir: Erzählen und Erinnern sind Grundbedürfnisse des Alterns. Je älter wir werden, um so umfangreicher sind die Erinnerungen und der Drang, sie mitzuteilen. Dafür gibt es in unserer Gesellschaft jedoch immer weniger Raum, immer weniger Zuhörer. Das ist tragisch für viele alte Menschen, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrem Bedürfnis. Die Kinder und Enkel sind oft weit entfernt oder haben selbst den Kopf so voll.
»Eine Gesellschaft, die ihre Erfahrungen nicht weitergibt, ist zum Scheitern verurteilt«, lautet ein weiser Spruch. Gerade Erfahrungen mit Herausforderungen, Niederlagen und Umbrüchen sind in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Doch sie finden zu wenigen Beachtung. Um diesem Defizit zu begegnen, haben wir ein Veranstaltungsformat entwickelt: den Erzählsalon. Man sitzt zu fünft, sechst, zehnt um einen Tisch und jeder erzählt eine persönliche Geschichte zu einem vorher festgelegten Thema. Man hört so lange zu, bis man inhaltlich anknüpfen kann. Wie herrlich ist es, wenn mal nicht alle durcheinanderquatschen und nicht gleich alles bewertet wird. Es gehört viel Disziplin dazu. Ohne sanfte Moderation kommt ein solches Setting nicht zustande. Es ist zutiefst beeindruckend, die Geschichte seines Gegenübers zu erfahren. Weil wir Menschen empathisch sind mit denen, in deren Erzählungen wir uns wiedererkennen, von denen wir lernen können. Und auch, weil wir uns positionieren können, indem wir eigene Erfahrungen mit denen anderer abgleichen. Die Erinnerungen der älteren Generation sind Potenziale für die gesamte Gesellschaft – und Erfahrungsschätze insbesondere für die Jüngeren. Sie können von den Alten lernen: wie man Schwierigkeiten bewältigt, wie man Krisen überwindet. Oder wie man kocht und nachhaltig mit Lebensmitteln umgeht. Ein überlebenswichtiges Wissen.
Unser Leben baut auf dem auf, was die Generationen vor uns geschaffen haben. Dass es uns heute vergleichsweise gut geht, verdanken wir denen, die es früher zum großen Teil viel schlechter hatten. Mein Vater ist ein Flüchtlingskind. Er hat mit seiner Familie seine schlesische Heimat über Nacht verlassen müssen, erlebte auf der Flucht im Winter 1945 furchtbare Kälte und Hunger. Angekommen im thüringischen Sonneberg (bevor es Jahre später nach Burgau bei Jena ging) wurden sie nicht willkommen geheißen. Die seit Ewigkeiten armen Bergvölker wollten nicht ihre schmalen Rationen auch noch mit den Habenichtsen aus dem Osten teilen. Mein Vater ist zunächst mit Stofflappen um die Füße zur Schule gegangen, weil er keine Schuhe hatte. Die Einheimischen haben ihn dafür gehänselt. Ein ganzes Schuljahr verlor er durch die Flucht; das Lernen fiel ihm schwer. Hungrig und müde saß er im Unterricht. Die Nächte verbrachte er unter einer klammen Zudecke auf einer dürftigen Pritsche, die er sich mit seinen Geschwistern teilen musste. Gott sei Dank gab es den Lehrer Namer, der ihm ab und zu eine Scheibe Brot zusteckte, der ihn förderte, der ihm eine Lehrstelle als Werkzeugmacher bei Sternradio besorgte. Weil er sagte: »Der Junge kann das.«
Was hat diese Generation alles geleistet, trotz dieser Traumatisierung! Wie sehr musste sich mein Vater anstrengen, um die Arbeiter- und Bauernfakultät zu absolvieren? Später besuchte er nach der Arbeit die Abendschule, um den Abschluss als Techniker zu bekommen. Schließlich sattelte er noch ein Fachschulstudium als Technologe drauf. Rechtschaffen und fleißig packte diese Generation an, um uns, ihren Kindern, ein wohliges Nest zu bauen und eine erfüllte Kindheit zu gestalten. Dafür gebührt ihnen Dank, auch wenn sie manchmal wunderlich sind – aber eigentlich kann das nicht verwundern. Es ist unsere Pflicht, sie darin zu unterstützen, dass sie in Würde alt werden können.
Als ich 2021 im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Integration Arbeit und Soziales mehrere Porträts für die Kampagne Gesichter des Solidarischen Grundeinkommens aufschrieb, interviewte ich einen jungen Brasilianer, der als Begleitperson für die Berliner Verkehrsbetriebe BVG arbeitet. Er holt ältere Menschen aus ihren Wohnungen ab und begleitet sie in den öffentlichen Verkehrsmittels zum Arzt, zur Physiotherapie oder zum Einkauf. Er sei bestürzt, erzählte er, wie viele von ihnen völlig vereinsamt sind. Es gäbe niemanden, der sich kümmert. Viele hätten keinen Kontakt zu ihren Kindern. Das könne er nicht verstehen. »Die Mutter, der Vater – für sie sorgen wir doch, so wie sie für uns gesorgt haben.« Er besuche seine Mutter, die unweit von ihm wohne, mehrmals in der Woche mit seiner Familie. Gemeinsam verbringen sie Zeit.
Was ist in unser deutschen Gesellschaft passiert, dass die Alten oft so gering geschätzt werden? Es ist mit der Industrialisierung entstanden, die alle Nicht-Leistungsträger aus der Gesellschaft ausschließt. Gegenwärtig schrumpft die Industrie, wir stehen vor einer neuen großen Transformation. Wir können die Pflege neu denken und neu gestalten. Ausgerichtet nach den Bedürfnissen der alten Menschen. Ihre Potenziale für die Gesellschaft nutzend. Den Alten gebührt ein sinnerfülltes Alter. Das heißt, mittendrin zu bleiben, solange es geht, nicht in Altenheim ausgegrenzt zu werden. Gebraucht werden bis zum Schluss. In Mehrgenerationenhäusern, in Dorf- und Stadtteilgemeinschaften, in der Familie. Mein seit zwei Jahren verwitweter Papa, mit dem ich inzwischen in Jena wieder unter einem Dach lebe, putzt gern das Auto, trocknet Walnüsse, schnippelt Sellerie und Möhren fürs Mittagessen. Das erfüllt auch mich.
Dieser Beitrag erschien in etwas abgewandelter Form am 5. April 2023 auch in der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) sowie in der Ostthüringer Zeitung (OTZ).