25 Jahre Erfahrung
Wie die Typografie innere und äußere Werte verbindet

Bücher gibt es seit über tausend Jahren. In alten Bibliotheken wie der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar oder der Klosterbibliothek in St. Gallen kann man Exemplare aus dem 11. Jahrhundert bewundern. An einem Buch hat ein Klosterbruder einst oft  jahrelang mit der Hand geschrieben. In Büchern steckt das Wissen der Welt.

 

Vor 25 Jahren gründete die Thüringer Literaturwissenschaftlerin Katrin Rohnstock in Berlin die Firma Rohnstock Biografien, um den reichen Erfahrungsschatz der »kleinen Leute« in individuellen Büchern zu bewahren. Die Idee: Menschen »wie du und ich«, keine Promis, beauftragen sie und ihr Team, ihre Lebens- oder Familiengeschichte(n) aufzuschreiben. Denn diese Geschichten sind wichtig für die Nachkommen. Sie zu kennen, bedeutet, die eigene Herkunft besser zu verstehen. In den Überlieferungen der Vorfahren steckt oftmals große Weltgeschichte – gespiegelt im kleineren, persönlichen Schicksal.

 

Erzählen geht schnell, Schreiben dauert lange.

 

Bei Rohnstock Biografien kann man seine Lebensgeschichte mündlich erzählen. Erzählen geht schnell, Schreiben dauert lange. Schreiben ist ein Handwerk wie Tischlern. So wie es Tischler gibt, die sich auf Möbel, insbesondere auf Tische oder Stühle spezialisiert haben, so haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Rohnstock Biografien auf das Schreiben von mündlich erzählten Lebens- und Familiengeschichten spezialisiert. Dieses Schreiben übernehmen sogenannte Autobiografiker. Das sind speziell ausgebildete Autorinnen und Autoren,  die von Rohnstock Biografien nach einer von Katrin Rohnstock entwickelten Methode so ausgebildet wurden, dass sie die mündlichen Erzählungen – den Ton, die Stimme, die Aufregung bei einem bestimmten Thema – all das in einen Text übersetzen. In ihm soll sich die Erzählerin oder der Erzähler wiederfinden. Und zwar so, als hätte sie bzw. er die Geschichte selbst geschrieben – sofern die Fähigkeit dazu gegeben wäre. Wenn eine Geschichte aufgeschrieben und von dem erzählenden Menschen korrigiert und ergänzt wurde, werden Fotos und Dokumente eingefügt und der Text in Buchform gestaltet. Dieses Werk bewahrt das ideelle Erbe eines Menschen. Es muss daher ansprechend gestaltet sein. Auch wenn das Buch innerhalb der Familie, unter Freunden und Mitarbeitern verschenkt wird: Von der Aufmachung des Buches hängt maßgeblich ab, ob es von den Nachfahren und Verwandten würdevoll behandelt und neugierig gelesen wird.

 

Typografin und Gestalterin Hanka Polkehn

In 25 Jahren, seit September 1998, sind unter dem Dach von Rohnstock Biografien weit mehr als 400 Bücher entstanden. 15 davon erschienen in Verlagen. Zum »Welttag des Buches« interviewt Gründerin Katrin Rohnstock die Gestalterin Hanka Polkehn, Professorin für Typografie an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule in Wismar und viele Jahre Artdirektorin bei Rohnstock Biografien. Bis heute gestaltet sie immer mal wieder Bücher für Katrin Rohnstock.

 

Katrin Rohnstock: Hanka, Du hast jahrelang als Artdirektorin für Rohnstock Biografien gearbeitet und zahlreichen von Rohnstock Biografien geschriebenen Lebens- und Firmengeschichten ein gestalterisches Antlitz gegeben. Du hast tolle Layouts für uns entwickelt. Was hat Dich an dieser Arbeit gereizt und welche würdest Du besonders erwähnen wollen?

 

 

Hanka Polkehn: Großen Spaß hat die Arbeit an der Firmenbiografie für das sauerländische Unternehmen GAH Alberts gemacht. Ein sicher geführtes Familien-Unternehmen voller Geschichten, mit Tradition und Ethos. Gereizt hat die Freiheit, Ideen umzusetzen. Nicht dauernd ein »aber«. Was aber nicht heißen soll, dass ich meinen Kopf durchsetzen möchte. Es war die Gemeinsamkeit des Entwickelns. Die Idee dieser Kapitel, die Zeitleiste oben, Nadelstreifen für die Chefs, die Produkte als Ornamente, Arbeiterporträts von Roger Melis. Wir haben im besten Sinne zusammengearbeitet. Wir haben uns aneinander gesteigert. Ein glücklicher Moment dann: als zum Firmenjubiläum jeder Beschäftigte, jede Mitarbeiterin ein Buch bekommt. Sie sind stolz, in dem Unternehmen zu arbeiten. Sie erkennen sich, ihre Chefs, ihre Arbeitsleistung im Buch wieder, ihre Kolleginnen und Kollegen – ja, genau, so sind sie.

 

 

Wichtig war aber auch die erste Festlegung aller Formate und Proportionen für die belletristischen Rohnstock-Formate, die Entscheidung für Schrift und Typografie. Das durfte ein eigenes Buch werden, wo ich auch etwas zum Büchermachen schrieb, über die Bedeutung aller Teile eines Buches. Und wo ich gestalterisch fabulieren konnte. Es wurde Kunden und Kundinnen auf ihrem Entscheidungsweg mitgegeben. Eine fabelhafte Rohnstock‘sche Idee, die ich sehr gern begleitet habe.

 

Katrin Rohnstock: Die alten Fotos, oft 50 Jahre und älter, sind sicher mitunter von schlechter Qualität, vergilbt, fleckig – und doch sind sie für den erzählenden Menschen besonders wichtig. Wie gehst Du mit dem Widerspruch zwischen ästhetischem Anspruch und ideeller Bedeutung um?

 

Hanka Polkehn: Das muss kein Widerspruch sein. Ich muss das lösen, dazu habe ich Mittel. Ich kann die Schönheit des Alten zeigen, das Besondere, das Einzigartige. Ich kann das so realistisch wie möglich tun, ich kann es auch verfremden, es ins Hier und Jetzt holen.

 

Ein Beispiel: Das Buch »Paula Roth« – die Geschichte einer Schweizer Wirtin aus Graubünden. Eine Herausforderung, weil es so viel Material gab, das es unmöglich alles im Buch abgebildet werden konnte. Eine skurrile, liebenswerte Person – das wollte ich mit meinen gestalterischen Mitteln erzählen. Ich habe die Entscheidung getroffen, das meiste Bildmaterial in schwarz-weiß abzubilden, damit gibt es nicht so große Sprünge. Es vereinheitlicht sich einerseits und lebt doch von der jeweiligen Besonderheit der einzelnen Fundstücke. Und die Dokumente sind so verteilt im Buch, dass es aussieht, wie in ihrer Gastwirtschaft, der berühmten Bellaluna.

 

Diese authentische Geschichte spielt im schweizerischen Albulatal. Ich wollte unbedingt in trennenden Kapitel-Aufmachern die Geschichte mit Hilfe von Symbolen erzählen, die sich zu Mustern zusammenbauen. Ich wollte etwas von dem Spirit der stilisierten Bergbilder transportieren. Ich war zuvor nie in der Schweiz. Aber ich hatte das Gefühl, dass das passt, auch die morbide Farbigkeit. Und Rohnstock hat mich machen lassen. Es ist dieses Vertrauen in die Idee, das gemeinsame Tauziehen und das erhebende Gefühl des gleichen Denkens. Ich durfte mich ausleben – und war, als ich bei der Premiere des Buches in Chur den Schweizer Boden zum ersten Mal betrat, unendlich froh: Ich hatte den Ton getroffen.

 

 

Katrin Rohnstock: Was ist das Besondere an dem Medium Buch? Seiten, Papier, Lesekomfort, Umschlag?

 

Hanka Polkehn: Genau das. Das Blättern ist etwas anderes als Wischen und Scrollen. Nach dem Lesen bleibt etwas zurück, ein visueller Eindruck, der sich mit dem Inhalt verbindet. Ich kann ein Buch ins Regal stellen, es ist da, ich habe es bei mir, kann es verleihen und vererben. Ich habe viele Bücher meiner Eltern übernommen, und auch, wenn einiges an Gelesenem lange zurück liegt, wohnt in mir noch das Gefühl des Lesens und Blätterns darin. Und die Buchrücken sind gewissermaßen zu einem Teil meines Lebens geworden.


Katrin Rohnstock: Ist das gedruckte Buch ein Auslaufmodell? Die Druckkosten werden immer teurer, die Verlage reduzieren ihre Programme. Gehört die Zukunft den digitalen Medien?

 

Hanka Polkehn: Schon oft wurde das Ende der Lesekultur angekündigt. Besonders drastisch, als in den 1990ern die Möglichkeiten des Personal-Computers Erstaunen auslöste. Im Moment sieht es nicht so aus, als ob das Buch verschwindet. Wenn man in den Buchläden steht oder in den Zeitungen die Rezensionen liest, denkt man sogar das Gegenteil.

 

Lesen sehe ich als eine Möglichkeit des Individuums, sich innerhalb der Gesellschaft selbst zu finden und zu bestimmen. In diesem Sinne wird das Buch benötigt – Leser brauchen Bücher.

 

Vielleicht wird zukünftig nicht mehr jeder Inhalt in ein Buch gegossen, man wird stärker auswählen. Und vielleicht noch mehr auf gute, angemessene Gestaltung achten, die Schnellschüsse werden vielleicht seltener. Und Autoren und Typografen müssen besser sein als die KI. Die unumschränkte Herrschaft der elektronischen Medien steht wieder einmal vor der Tür, wissen die Apokalyptiker, die ihre Meinung am liebsten als Buch veröffentlichen.


Katrin Rohnstock: Du bist Professorin für Typografie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule in Wismar. 
Was bedeutet »Typografie«? Und welche Bedeutung hat sie für ein Buch? Sollte sie nicht vor allem modern sein und ein bisschen extravagant?

 

Hanka Polkehn: Typografie ist zuallererst ein Handwerk. Es kann auch über geistige Beziehungen verfügen und zu hohen künstlerischen Leistungen heranreifen. Aber der künstlerische Rang darf kein Vorsatz von vornherein sein, sondern enthüllt sich im allerglücklichsten Fall als Ergebnis. Typografie macht Text lesbar. Und dabei geht es eben zunächst nur darum – eine geeignete Schrift zu suchen, eine passende Schriftgröße mit angemessenem Zeilenabstand. Ausgewogene Proportionen der Kolumnen auf dem Papier, Papier, das nicht zu weiß ist, eine angenehme Haptik hat und genug Raum zum Atmen bietet.

 

Vernünftige Typografie wäre demnach eine Anordnung von Schrift, die innerhalb der ihr gesetzten Grenzen und Ziele funktioniert, indem sie Konvention und Neuerung in ein jeweils wohl abgewogenes Verhältnis setzt. Sie strukturiert den Text, gestaltet ihn überschaubar, verhält sich aber neutral zu seinem Sinn. Sie geht mit erheblicher Feingefühl auf seine Aura ein, berücksichtigt Besonderheiten des Genres, achtet aber stets auf unverstellte Durchsichtigkeit des zu vermittelnden Textes.

 

Das alles hat erst einmal nichts mit »extravagant« zu tun, oder vielleicht doch, weil man sich lange und intensiv mit dem scheinbar Wenigen beschäftigen muss. Wenn man sich Bücher aus der Renaissance anschaut, dann sind diese immer noch zeitlos schön.

Hinzu kommt die Typografie, die den Text deutet. Sie bemächtigt sich der sprachlichen Binnenstruktur kurzer Texte, wertet und interpretiert sie dadurch bis hin zur überraschenden Umdeutung, ja sogar bis zur verblüffenden Umkehrung. Diese Typografie spielt mit Sprache, indem sie aus ihr Sinngehalte hervortreibt. Entscheidend ist hier immer noch der funktionale Bezug zum Text, nämlich, ob die Typografie bemüht ist, dem Text auf kühne und originäre Weise zu dienen oder ob sie sich von seinen Sinngehalten abwendet und Putz und Schmuck von außen anträgt – als Selbstverwirklichung des Gestalters.

 

Katrin Rohnstock: Du hast Anfang der 1980er an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin studiert – was hat Dir das Studium gebracht, wer waren Deine Lehrer?

 

Hanka Polkehn: Vor dem Studium war meine Lehrmeisterin Frau Noack an der Berufsschule Rudi Arndt in Berlin-Mitte, als ich den Beruf des Schriftsetzers erlernte. Sie war lustig und streng zugleich, verfügte über ein ausgezeichnetes Fachwissen und liebte ihren Beruf. Meine wichtigsten Lehrer an der Kunsthochschule waren die Professoren Axel Bertram, Werner Klemke, Rudolf Grüttner und Volker Pfüller. Ich lernte neben dem gestalterischen Handwerk, dem Suchen nach Ideen, von mir selbst abzusehen und mich bei jeder neuen gestalterischen Aufgabe dieser unterzuordnen und maßgeschneiderte Ideen dafür zu entwickeln. Das sich dabei über die Jahre ein persönlicher Stil ausprägen würde, war Nebensache.

 

Katrin Rohnstock: Was versuchst Du heute Deinen Studenten zu vermitteln?

 

Hanka Polkehn: Das gleiche – denn das hat nicht an Aktualität verloren. Genau hinsehen, sich intensiv mit jeder neuen Aufgabe beschäftigen, tief Einblick nehmen, gründlich recherchieren, präzise arbeiten. Viel ansehen und sich mit den Besten der Branche messen. Und vor allem: Gute Gestaltung ist nicht schnell zu machen. Auch wenn die heutigen Zeiten einem das vorgaukeln.

 

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