Carola Buder – Von der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit
Das Projekt „Erfahrungen und Potenziale an einen Tisch – Unternehmergespräche im Lausitz Lab“ brachte 2017/2018 Lausitzer Unternehmer in Erzählsalons zusammen. Eine der Erzählerinnen war Carola Buder. Lesen Sie hier ihre Geschichte.
Ich bin eine der letzten Schneidermeisterinnen von Cottbus. Ausgebildete Schneiderinnen zu finden ist in unserer Region schwer. »Näherinnen« dagegen haben wir genug. Durch das einstige TKC, das TextilkombinatCottbus.Hier produzierten die Frauen Kleidung am Fließband: Eine fertigte den Bund, eine andere nähte den Reißverschluss ein, eine dritte setzte die Taschen auf. Sie waren Bandnäherinnen, bei Änderungsarbeiten enden ihre fachlichen Künste zumeist. Ich dagegen bin Maßschneiderin, eine Meisterin, die vom Maßnehmen, Schnitt-Erstellen, Nähen und Ausliefern alles kann.
Von 1970 bis 1972 lernte ich Damenmaßschneiderin in der PGH in Cottbus. Unsere Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) beschäftigte über hundert Arbeiter in der Damen-, Herren-, Leder- und Änderungsschneiderei. Nach der Geburt meines Sohnes Daniel blieb ich drei Jahre zu Hause. Anschließend ging ich in den Betrieb zurück. Ich wollte weiterkommen, endlich im Zuschnitt arbeiten. Aber das funktionierte nicht. Alle Kollegen, die neu in den Betrieb kamen, absolvierten einen Zuschneidekurs und machten ihren Meister. Wir aber, die wir hier gelernt hatten, kamen nicht voran. Da rumorte es gehörig.
Trotz allem hielt unsere Truppe fest zusammen. So etwas gibt es heute nicht mehr. Wir feierten gemeinsam Geburtstage, die Arbeit machte Spaß. In all den Jahren erlebten wir etliche Chefs, die sich bemühten, Aufträge ranzuholen. Um sie schnell abzuarbeiten, nähten wir Positionen am Stück – wie die Kollegen im TKC. Wir arbeiteten auf Leistung. Wer schnell war, bekam mehr Geld. Hauptsächlich fertigten wir jedoch Kleidung für Kunden auf Maß.
Ein Vierteljahr bevor die Mauer fiel, kündigte ich bei der PGH. Ich wollte zu einem privaten Schneider wechseln. Dass die DDRvor dem Zusammenbruch stand, ahnte ich natürlich nicht. Ich fragte bei meiner ersten Lehrmeisterin Frau Bulke an. Sie besaß eine eigene Werkstatt, ließ mich aber wissen: »Carola, ich will aufhören. Ich kann dich nicht nehmen.« Sie gab mir die Adresse der Schneidermeisterin Erika Klamm, die mich sofort nahm. Da ich von der PGHkam, wusste sie: Die Frau ist gut und kann selbstständig arbeiten, von null auf hundert.
Vier Wochen später fuhr Frau Klamm zur Kur. Bevor sie ging, verkündete sie mir: »Du übernimmst meine Werkstatt.« Sie hatte sieben Angestellte, die Verantwortung war also groß. Ich schmiss den Laden. Als sie wiederkam, sagte sie: »Nun machst du deinen Meister. Ich bin dein Mentor.«
Mitten in der Wendezeit begann ich meinen Meisterlehrgang. Einen Teil absolvierte ich noch in der DDR, den Abschluss machte ich im vereinten Deutschland. Ich musste alles selbst bezahlen, aber meine Familie stand hinter mir und unterstützte mich.
In der Zwischenzeit verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage. Wir versuchten, die Schneiderei zu retten. Die Meisterin setzte uns auf Null-Stunden-Kurzarbeit – wie weithin üblich in jenen Jahren. Es half nichts. Frau Klamm musste ihre Werkstatt schließen.
Als ich den Meisterbrief 1992in der Tasche hatte, war ich bereits ein Jahr arbeitslos. Im September meldete ich mein Gewerbe an. Neben der Änderungsschneiderei wollte ich Mode verkaufen. Über den Winter suchte ich nach passenden Räumen. Diese fand ich in einem Häuschen in meinem Wohnort Kolkwitz. Die Mieten in Cottbus waren utopisch. Außerhalb der Stadt konnte ich jedoch klein anfangen.
Am 3. Mai 1993 öffnete ich meine Ladentür. Der Verkaufsraum wurde mit einem Ofen beheizt. Vom Hof aus schleppte ich die Kohlen rein. So war es stets kuschlig und gemütlich. Zwar qualmte es ab und zu – und einmal fror die Wasserleitung ein – trotzdem war die Anfangszeit wunderbar.
Ich begann allein. Später öffnete ich einen zweiten Laden in Vetschau und stellte eine Mitarbeiterin ein. Vier Jahre lief das Geschäft gut, bis sich in Vetschau die Neubauten leerten. Alle zogen weg, und ich entschied: »Das hat keinen Sinn mehr, hier gibt’s zu wenig Arbeit.«
Die Mitarbeiter des Ordnungsamts lagen mir jedoch in den Ohren: »Wir brauchen Sie! Ihre Schneiderei ist die letzte im Ort.« Ich probierte es an einer anderen Ecke, in einem Einkaufszentrum. Aber auch hier gingen langsam die Lichter aus. Ein Geschäft nach dem anderen schloss, und schließlich rang ich mich durch: »Wir machen Schluss!«
Meine Läden in Vetschau hätten mir fast das Genick gebrochen. Ich machte in Kolkwitz weiter und rappelte mich wieder auf. Ich beschloss, nun doch nach Cottbus zu gehen. Am 1. April 2005 mietete ich meinen jetzigen Laden von Frau Jagott. Sie hatte darin eine Kunststopferei betrieben. Die Ecke gefällt mir. Ringsherum befinden sich Läden, das Krankenhaus und der Bahnhof sind nah. Die hohen Mieten in der Innenstadt kann ich mir immer noch nicht leisten. Hier jedoch ist das Geschäft machbar.
Ich betreibe mein Geschäft allein, ansonsten bliebe vom Verdienst nichts übrig. Ich möchte nicht mehr nur für die Angestellten arbeiten, das habe ich schon. Sie verdienten ihr Geld, machten Urlaub und bekamen ihre Lohnfortzahlung bei Krankheit. Ich ging ohne all das nach Hause.
Die Kundschaft findet auf verschiedenen Wegen zu mir. So zum Beispiel durch den »Tag des Meisters«, der in der Stadthalle begangen wird. 2017erhielt ich dort den Silbernen Meisterbrief. Damit werden Handwerksmeister ausgezeichnet, die seit fünfundzwanzig Jahren selbstständig sind. Von denen, die mit mir den Meisterlehrgang absolvierten, war keiner dabei.
Vor kurzem bekam ich ein Päckchen, darin lag ein Brief: Ich habe Sie am »Tag des Meisters« in der Stadthalle gesehen. Ich wünsche Alles Gute für Ihr Geschäft. Ich lege Ihnen eine Hose bei. Bitte kürzen Sie diese. Es ist eilig. Das Geld liegt bei. Bitte gönnen Sie sich, von dem, was zu viel ist, ein paar Blümchen. Liebe Grüße.« Ich kannte die Frau nicht, ihre Hose änderte ich umgehend und schickte sie zurück.
Erst kürzlich schloss eine Schneiderei in Sachsendorf. Viele der Kunden kommen jetzt zu mir. In Schmellwitz dagegen ist eine Schneiderin ansässig, die früher im TKC arbeitete. Sie kürzt Hosen und nimmt lediglich einfache Aufträge an. Alle komplizierten Arbeiten schickt sie zu mir.
Ich nehme auch Wäsche zur Reinigung an. Im Gegenzug beauftragt mich die Wäscherei mit Änderungen wie dem Einnähen von Reißverschlüssen in Jacken oder Bezüge. Als vor acht Jahren der Hermes-Paketshop schloss, wurde ich gefragt: »Carola, machst du jetzt Hermes?« Da sagte ich nicht nein. Manchmal stört mich der Aufwand, aber die Arbeit bringt zusätzliche junge Kunden. So mancher kommt wieder, um eine Änderung in Auftrag zu geben.
Die Kunden wundern sich oft, wie teuer kleine Änderungen sind: »Was? So viel kostet das?« Aber allein für einen Reißverschluss bezahle ich zehn Euro. Das Heraustrennen und Neueinsetzen braucht seine Zeit. Wenn ich Pech habe, sitze ich zwei Stunden an einem Reißverschluss. Kurzfristige Aufträge nehme ich oft mit nach Hause und erledige Trennarbeiten vorm Fernseher.
Um meine Maschinen kümmert sich ein Mechaniker. Er spezialisierte sich auf Nähmaschinen und führt Nähzubehör. Nadeln, Scheren und Garn bekomme ich bei ihm günstiger als anderswo. Brauche ich etwas, gehe ich zu ihm oder schicke meinen Mann. Er ist Rentner und kennt sich inzwischen gut aus.
Ich bin 64 Jahre alt und habe fünf Enkelkinder. Das Alter hinterlässt seine Spuren. Ich möchte bald ebenfalls in Rente gehen und mich der Familie und unserem Garten widmen. Deshalb suche ich eine Schneiderin vom Fach, die meine Nachfolge antritt. Seit drei Jahren versuche ich, Anne M. zu überzeugen, mein Geschäft zu übernehmen. Sie ist 48Jahre alt, selbstständig und betreibt ihre eigene Werkstatt zu Hause. Ein- bis zweimal in der Woche fährt sie nach Hoyerswerda und führt dort in einer zweiten Werkstatt Änderungen aus. Sollte sie meine Schneiderei übernehmen, kann sie dies weiterhin tun. Ich würde sie stundenweise im Laden unterstützen – weil ich will und nicht, weil ich muss. Ohne den Druck, den ich als Selbstständige habe.
Annes Mann ist nicht begeistert von der Idee, dass sie mein Geschäft übernimmt. Sie soll nachmittags für ihn und die Familie da sein. Unsere Fachgruppe »Schneider« ist klein geworden. Noch gibt es elf Schneider in Cottbus. Wir waren eine gute Innung und hatten viele Lehrlinge. Unsere Auszubildenden durchliefen die verschiedenen Werkstätten und lernten in jeder etwas Neues. Schließlich arbeitet jeder Meister ein wenig anders. Leider bilden wir nicht mehr aus. So wird unser Handwerk in absehbarer Zeit aussterben.
Bei mir lernten fünf Schneiderinnen. Zwei ließen sich zu Krankenschwestern umschulen und arbeiten jetzt im Krankenhaus. Doreen landete im tiefsten Westen, in Rosenheim, und arbeitete in einer Boutique. Was sie heute macht, weiß ich nicht. Die vierte ging mit ihrer Familie nach Dresden und betreibt dort eine kleine Werkstatt. Judith, die fünfte, studierte in Halle Kunst und Biologie auf Lehramt. Eigentlich wollte sie Modedesignerin werden. Dreimal bewarb sie sich, erhielt jedoch jedes Mal eine Absage. Nun arbeitet sie als Biologie- und Kunstlehrerin. Dabei nützt ihr das Schneiderhandwerk zum Glück.
Kaum einer unserer Lehrlinge landete in der Modebranche. Sie ist gar zu umkämpft. Von einer Cottbuser Auszubildenden weiß ich, dass sie dem Handwerk treu geblieben ist und sogar auf die Walz ging. Dabei lernte sie ihren Mann kennen, einen Zimmerer. Heute leben sie gemeinsam an der holländischen Grenze, wo sie eine eigene Werkstatt betreibt. Bei einem Vortrag, den sie bei einem Fachabend in der Schneiderinnung hielt, staunten wir alle. Sie hat wirklich die Welt gesehen!
Die Innung organisierte vor zehn Jahren eine Fahrt zur Handwerkermesse nach München. Wir fragten die dortigen Schneiderinnen, wie sie ihr Geschäft am Laufen halten. Sie verlangen viel höhere Preise als wir. Außerdem stehen oft Ehemänner im Hintergrund, die das Geld für die Familie verdienen. Diese Schneiderinnen arbeiten nur für Stammkunden. Für sie ist das Handwerk kein Beruf, sondern ein Hobby und Zeitvertreib. Mit ihnen können wir uns nicht vergleichen.
Trotzdem liebe ich meinen Beruf. Ich würde ihn jederzeit wieder ergreifen und alles genauso machen. Es ist ein Traumberuf. Ich lerne verschiedene Menschen kennen, meistere Herausforderungen und bekomme Zuneigung zurück. Das macht mich stolz.
Bis heute pflege ich den Kontakt zu meiner ersten Lehrmeisterin. Sie ist 84 Jahre alt. Ich lernte viel von ihr, gehörte sie doch noch der alten Schule an. Genau wie Erika Klamm. Sie besucht mich gern in der Werkstatt. Auch Herr Kafka, ein Kollege aus der PGH, ist ein gerngesehener Gast. Er ist 104 Jahre alt. Wenn er mit seiner Frau vorbeikommt, sagt er: »Carola, ich geh hinter in die Werkstatt«, setzt sich hin und zieht ein Stück Stoff an der Maschine entlang. Zuhause darf er das nicht mehr, da schimpft die Frau.